Der Lebensraum - das Umfeld in dem Menschen leben - hat grossen Einfluss auf das Verhalten. In frühen Phasen der Kindheit, während der Sozialisation (Glossar), ist der Raum bestimmt durch den seiner unmittelbaren Bezugspersonen; hier findet die Orientierung statt. Wenn Kinder gehen gelernt haben, können sie ihren Lebenserfahrungsraum erweitern. Das trifft auch auf die "Kontaktstellen" für Ernährung zu. Die "Küche der Mutter" öffnet sich. Das blosse Ausgesetztsein (mere exposure) mit verschiedenen Speisen und Geschmakcsrichtungen trägt zur Ausprägung des eigenen Verhaltens nachhaltig bei.
Historisch waren die Nahrungs-(Agrar)räume und Lebensräume eng zusammen – sie gehörtem zu einem Haushalt. Noch vor einigen Jahrzehnten gab es viele klassische ländlichen Haushalte (OLT - Dehnen) neben dem Stadthaushalten. Mit allen Sinnen konnten Kinder erfahren wie das Essen auf den Tisch kam. Sie sahen Getreidefelder, Mühlen, kannten Bäcker und Backstuben.
Heute sind die Lebens-, Arbeits- und Freizeitorte der Menschen im Raum verteilt. Es erfordert Mobilität und Kommunikation die verschiedenen Räume zu nutzen; dabei werden Güter und Zeit verbraucht (Ernährung und Umwelt) . So haben Raumplanung und Raumentwicklung Einfluss auf die Nachfrage nach Lebensmitteln. Es gibt immer mehr Menschen, die keine Nahversorgung mit Lebensmittel (an ihren Wohnorten - Gemeindeebene) haben (Nahrungswüsten - food desert; d.h. Menschen benötigen Verkehrsmittel um Grundversorgung an Lebensmittel einkaufen zu können).
Die vertrauten Räume („Heimat“) geben Orientierung und Sicherheit. Unbekannte Räume – die Fremde – lösen Unsicherheit und Unbehagen aus (Migranten). Heimat und Fremde sind relative Konstrukte; es trennt das Allgemeine (Normal) vom Seltenen (Rand-Verteilung). Unsere Sinne kontrollieren die Umwelt, und melden (ins Bewußtsein) Abweichungen. Das bedeutet, dass es Stellpunkte (setpoints) für die Wahrnehmungen (der Sinne und deren Verarbeitung) gibt. Wir erlernen diese "Einstellungen" in biopsychosziokulturellen Prozessen. Die Kontrolle (Bewertung) verläuft quasi automatisch; Menschen haben (im Alltag) kaum Zeit für die (durchdachte, abgewogene) Entscheidungen zu "essen oder nicht essen, das ist hier die Frage".
Das Essen (die Speise) muss unserer individuellen Kontrolle unterliegen, denn hier wird Fremdes einverleibt. Das bekannte, das vertraute Lebensmittel (mit dem man schon viele positive Erfahrungen hatte) kann durch zusätzliche interne somatische Informationen (z.B. akute Nahrungsunverträglichkeit) und durch äussere (externe) Information (z.B. die Kuh ist wahnsinnig; BSE - Skandal) zu etwas "merk"würdig Fremden werden.
Die Bewertung der Erfahrungsräume wird erlernt, die Regeln sind in (implizit) uns. Meist sind sie uns nicht bewusst und können sie nicht benennen. Wir erleben sie eher in der Fremde, in einem unvertrauten Setting, wenn unsere gewohnte Handlung dort "anstössig" wirkt. Ernährungshandeln ist voller Symbole. Beim gemeinsamen Mahl kommunizieren wir mit den "Mitessern", hier werden die Positionen zueinander gezeigt und die Rollen gespielt (Mahlzeiten-Typen). In den Ernährungsgewohnheiten von Menschen lassen sich ihre Biographien ablesen. "Der Mensch vergisst eher die Sprache als seine Ernährungsgewohnheiten". Das trifft zumindestens für wesentliche Merkmale zu, wie z.B. die Geschmacksvorlieben und "Geruchsbilder" (Theorie des Geschmackskonservatismus – Tolksdorf).
Trotz des hohen Mobiltitätsdrucks bleiben sehr viele Menschen ihrer (vertrauten) Umgebung (Heimat) treu. In Deutschland (wie auch in allen Ländern Europas) zeigen sich sehr differenzierte Ernährungsgewohnheiten. Die geographischen Räume (Agrargeographie) unterscheiden sich in ihren geophysikalischen Eigenschaften (Bodenart; Klima und dem Relief, wie Berg und Tal); daraus entstanden soziokulturelle Räume (Agrar- Landnutzungs-kulturen). Diese natürlich kleinräumlichen Unterschiede sind heute noch festzustellen (z.B. in der Rivalität zwischen Nachbargemeinden, Städten und Ländern; z.B. in der schönsten Nebensache der Welt - dem (Fußball)Sport).
Heute haben Menschen Möglichkeiten, im „global village“ ihre Heimat zu suchen. Darüberhinaus werden die Erfahrungsräume der Menschen (der Kinder) medial erweitert (TV, Internet) und durch die Mobilität auch real. Es leben Fremde als Nachbarn, und im Urlaub wird man zum temporären Fremden im fremden Land. Daraus entwickeln sich globale Ernährungsstrukturen (mit den Leitbildern wie Pommes Ketchup, Hamburger und Cola). In den verschiedenen deutschen Regionen („Landsmannschaften“) (österreichische "Genußregionen") zeigen sich noch die bekannten Ernährungstraditionen unserer "Volksstämme" (z.B. Bayern und Preussen) grenzen sich weiterhin ab. Es gibt den "Weisswurst-Äquator ". Nationen werden durch bestimmte Lebensmittel charakterisiert (Deutschland - Kraut, Kartoffeln; Italien - Pasta, Spaghetti; Tomaten; usw.). (Marktanalysen nach Nielsen-Gebieten)
Es entwickelt sich Umbehagen gegenüber modernen Entwicklungen, wie der Globaliserung und den wirtschaftlichen Verwerfungen. Hier können die regionale Kulturen einen "Festhaltepunkt" bilden. Marketing-Maßnahmen (z.B. der Fremdenverkehrsbranche) fördern die Hinwendung zur "regionalen Speise". In gleicher Richtung führen Überlegungen, den Ressourcen-Einsatz im Ernährungsbereich zu minimieren. Die ernährungsökologisch orientierten Ernährungsziele (dietary goals) haben die Verwendung regionaler Lebensmittel als wichtigen Aspekt aufgenommen. Die Europäische Union unterstützt dies z.B. durch die Vergabe und den Schutz der kontrollierten Ursprungbezeichnung für regionale Spezialitäten.
Die Warenströme (der Lebensmittel) zwischen den Produktions-, Verarbeitungs-, Verteilungs-, Handels- und Verzehrsstationen (Nahrungskette) sind immens. Von den ursprünglich klein-räumlichen Kreisläufen ist fast nichts mehr geblieben, selbst der Mülltransport ist globalisiert (Info). Unser globales Angebot zeigt einen "Waren-Luxus" (internationales Buffet) und internationale "erfahrene" Nahrung (food miles). Die Agrarräume konzentrieren sich und die Lebensräume der Menschen (Urbaniserung - Metropolisierung - Megacities)
Bei sozialempirischen Studien ist der Raum eine wichtige erklärende Variable (es wird z.B. nach Bundesländern gefragt; in Deutschland auch Nielsen Gebiete). Die in Europa räumlich auf engem Raum vorhandenen regionalen und traditionellen Ernährungsgewohnheiten lassen interessante ernährungsepidemilogischen Studien zu (wie z.B. EPIC; SENECA).
Die Thematik von "Ernährung und Raum" wurde auf der Jahrestagung 2001 der AGEV (www.agev.net ) ausführlich dargestellt und dieses ist im "world wide web" festgehalten und "ein-sichtig" - http://www.agev.net/tagung2001/dokumentation.htm.
Weitere Informationen -
Regionale Lebensmittel
Dimension - Umwelt - Länder-Staaten (Bundesländer)