Die Betrachtung der Strukturen der Gesellschaft im Ernährungssystem beginnt mit den Erwachsenen – den Männern und Frauen (Dimension Menschen). Sie haben die "tragenden Rollen“ der Gesellschaft mit ihren biologischen (Fortpflanzung) (hier genannt - Geschlecht) und gesellschaftlichen Funktionen (hier Ausdruck Gender). Sie haben die Aufgabe, die Bedürfnisse der „unselbstständigen“ Teile der Gesellschaft sicherzustellen; z.B. in dem die Kinder zu mündigen Staatsbürgern erzogen werden (Sozialisation) und den Senioren ein angenehmer Lebensabend bereitet wird. Sie geben Informationen an die nächste Generation weiter, durch die Gene (biologisches Gedächtnis) und durch die Erziehung (gesellschaftlich kulturelles Gedächtnis, Erbe).
Die Familie und der Haushalt sind die kleinsten Struktureinheiten (Mikroebene) der Gesellschaft (Dimension Umwelt) in der diese Rollen realisiert werden. Männern und Frauen sind in diesen Funktionen sowohl biologisch als auch kulturell unterschiedlich, das betrifft ebenso ihre Anteile am Ernährungssystem.
In den verschiedenen Lebenssituationen (Settings, Handlungsräumen) treten verschiedene „Darsteller“ auf der „Lebensbühne“ auf. Männer sind die „Ernährer“ der Familie (sie arbeiten gegen Entgelt, Lohn) und die Frauen kümmern sich um die Kinder, Küche und Kirche. Die Verteilung der Tätigkeiten rund um das Essen wird empirisch beobachtet (z. B. durch Zeitmessungen) (Methode). Die Ergebnisse zeigen die Rollen sind noch traditionell verteilt, trotz vieler emanzipatorischer Akivitäten.
Biologisch gesehen ist die Rolle der Frau im Reproduktionszyklus der Menschen einzigartig und damit im Zusammenhang ebenso ihre Funktion in der Säuglingsernährung, nur Frauen können Säuglinge stillen. Bedingt durch vielen „Haus“- und Familien-Aufgaben sind sie Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Von Natur aus sind Frauen für die hohe Belastung besser ausgerüstet, sie sind oekoresistenter. Doch in vielen Stiuationen wird die Belastungsgrenze überschritten. Schwangere und Stillende zählen zu den gefährdeten (vulnerablen) Gruppen. Die unterschiedlichen Ernährungsbedürfnisse (von Mann und Frau) wurden durch kulturell-gesellschaftliche Regeln und Normen gefestigt. Aus biopsychosoziokulturellen Hintergründen fühlen und denken Frauen und Männer unterschiedlich, und scheinen so auch unterschiedliche Aufgaben und Rollen besser ausfüllen zu können. Männer sind „gefühlsloser“ und „Kopf-Entscheidender“, Frauen sind sozialkompetenter und können vernetzter denken und sind besser im „Multitasking“ („Küchenarbeit ist Systemarbeit“).
Es zeigen sich immer noch deutliche Unterschiede nicht nur im Umgang mit Lebensmitteln (Kochkompetenz), sondern auch im Ernährungsverhalten. Es gibt Lebensmittel, die Frauen häufiger verzehren. Die „idealen“ Körperbilder unterscheiden sich. Beispiele dafür sind: Männer essen insgesamt mehr (haben auch höhere Bedarfswerte) und überproportional mehr an Fleisch, Wurstwaren und alkoholischen Getränken. Frauen essen mehr Obst und Gemüse. Frauen haben das bessere Ernährungswissen.
Im Durchschnitt sind Frauen weniger körperlich aktiv als Männer, das betrifft vor allem den Freizeitbereich. Die Hausarbeit wird zwar nicht zeitlich wesentlich geringer, doch hier führt der „Maschineneinsatz“ zur Erleichterung der körperlichen Arbeit.
Das soziokulturelle Bedingungsgefüge über die Rollen- und Aufgabenverteilungen könnte zu Veränderungen führen. In der Realität unserer Gesellschaft sind die erhaltenden Kräfte sehr stark. Das Marketing nutzt sehr ausgeprägt die „alten“ Bilder (Frauen vs Männer-Journale). Immer noch "designene" viel mehr Frauen ihren Körper nach „fremden“ Bildern. Die Zahl der entsprechenden Schönheitsoperationen steigt enorm. Die Gender-Diskussionen über neue Rollen-Verteilungen im „Work-Life-Balance-Spiel“ (multitasking) sind noch nicht sozial-empirisch meßbar. Immer noch sind mehr Frauen (im Vergleich zu Männern) mit ihrem Körperbild unzufrieden. Frauen führen häufiger Diäten durch und erleiden öfter Essstörungen.
Die Ernährungszustanderhebungen zeigen allerdings akuter Nährstoff-Mangel tritt bei Frauen ebenso selten auf wie bei Männern. Besondere Probleme und erhöhte Risiken ergeben sich durch den erhöhten Bedarf während der Schwangerschaft- und Stillperiode (z.B. Risiko des Folatmangels; häufiger Eisenmangelanämien und der Knochenschwund <Osteoporose>). Günstiger ist verglichen mit Männern die Situation bezüglich alkoholbedingter Schäden. In den Perioden der Schwangerschaft und des Stillens, die durch biologische und soziale Mechanismen besonders geschützt sind (Mutterschutzgesetzgebung), achten Frauen besser als zu anderen Zeiten auf ihre Gesundheit (Genußmittel) und ihre Ernährung (Supplemente).
Frauen neigen nach den Wechseljahren zu höherem Übergewicht als Männer. Obgleich Frauen ökoresistenter sind, das zeigt sich in der höheren Lebenserwartung, geben sie häufiger Gesundheitsbeschwerden an als Männer.
Die bestehenden Schiefen in der soziokulturellen „Rollen-Besetzung“ haben Forderungen nach Programmen verstärkt, die hier Änderungen bewirken können. Das betrifft ebenso den Bereich Gesundheit und Ernährung von Frauen. Dazu gibt es globale Bestrebungen von der WHO. In Deutschland sind erste vorsichtige Ansätzen zu sehen, dabei ist der Bereich Ernährung vernachlässigt. Das Land Baden-Württemberg hat z.B. einen Frauengesundheitsbericht publiziert und es gibt an der Universität Stuttgart-Hohenheim eine Professur Gender-Forschung im Ernährungsbereich.
(siehe auch Gender) (Dimensionen Menschen - Geschlechter)
Lit.
Österreichisches Ministerium für Gesundheit / www.bmg.gv.at - Bereich Frauengesundheit
--- Frauengesundheitsbericht Österreich - 2005/2006
-- Frauengesundheitsbericht 2010/2011
WHO - Women World Report 2006