TYPO3 Musterprojekt - Friday, 19. April 2024
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Auch die Strategien der ernährungsepidemiologischen Forschung lassen sich auf einem Kontinuum abbilden. (siehe Buch-Text  OLT134 - Kap.2.3.2.3) (Urform; S.102)

Die ersten, ursprünglichen Fragen der Forscher sind beobachtender Art: „Was geschieht im Untersuchungsfeld? Was essen Menschen(gruppen), was für ein Ernährungsverhalten haben sie?
Wie wirkt sich dies (unter Berücksichtigung der betreffenden Umwelt) aus, welche ernährungsabhängigen Gesundheitsstörungen werden beobachtet?“ Die Antworten dieser explorativen Vorgehensweise sind beschreibender Art (deskriptive Forschung). Dabei werden wichtige Variablen erkannt, andere Bereiche erscheinen als unwichtig, zu vernachlässigen. Es werden erste Zusammenhänge bewusst, es ist Theorie bildende Forschung.

Damit wird die nächste Forschungsstufe erreicht, die analytische Ernährungsepidemiologie. Aufgrund entsprechender Theoriemodelle, d. h. der Auswahl bestimmter Variablenbereiche unter Berücksichtigung der Abfolge der Wirkungsbeziehungen, werden Theorie-prüfende Feldstudien entworfen und durchgeführt. Sie sind häufig retrospektiv angelegt, um alternative Theoriemodelle kurzfristig vergleichen zu können. Erst auf der letzten Stufe der Forschungsstrategie gilt es, das Modell auf seine Richtigkeit zu prüfen, dabei greift der Forscher experimentell in das Feld ein, er interveniert. Wenn das Modell stimmt, müssen bestimmte Ursachen (z. B. ein spezifischer Nährstoffmangel) einen vorhersagbaren Grad an Wirkung zeigen. Dieser Weg der Forschung kann auch als der Weg von den „weichen“ zu den „harten“ Untersuchungsformen beschrieben werden. Theorien entstehen, werden eingeengt (falsifiziert) und die „Wahrheit“ wird bestätigt (verifiziert).

In der Epidemiologie gibt es seit einiger Zeit eine Grundsatzdiskussion zu der Frage, ob wirklich jegliche Epidemiologie von einer Theorie begleitet sein muss. So schreibt z. B. M. PFLANZ (1973): „Jeder epidemiologischen Untersuchung muss eine Hypothese bzw. eine gezielte Fragestellung zugrunde liegen“. Diese wissenschaftstheoretische Kontroverse erscheint in gewisser Weise zu spitzfindig zu sein. Theorien sind nur aus einer gewissen Kenntnis heraus bzw. mit einem guten Grad an Überblick abzuleiten. Erste ernährungsepidemiologische Studien in einem neuen Untersuchungsraum können dazu dienen, dass man sich entsprechend orientiert. Der Beginn eines Forschungsprozesses kann und soll nicht Theorie-bezogen sein.

Ist der Untersuchungsgegenstand unbekannt - wie z. B. die Ernährung fremder Volksstämme oder dasAuftreten neuer Ernährungsweisen (z. B. Fast-Food, Biokost usw.), dann müssen diese zuerst Theorie- bzw. Vorurteils-frei beschrieben werden.

Diese Forderung nach einer theoriefreien Beobachtung eines Untersuchungsgegenstandes ist als solche theoretischer bzw. idealer Natur. Jeder Mensch und somit jeder Forscher hat bestimmte Sichtweisen und Erfahrungskonstrukte verinnerlicht, die sein Beobachten leiten und zum selektiven Wahrnehmen führen. Davor ist niemand gefeit, und keiner kann sich davor schützen, es sollte jedoch versucht werden, seineVorurteile in Rechnung zu stellen (Rivers 1979). Nachdem ein gewisser Überblick über das Untersuchungsfeld vorhanden ist, wird die Forderung nachTheorie-geleiteter Forschung richtig; gleichwohl auch dabei die Gefahren und Risiken nicht vergessenwerden dürfen. Die Theorien leiten die Erkenntniswege, doch sie dürfen nicht gleichbedeutend mit gänzlicher „Blindheit“ für Nebeneffekte, d. h. ausgeklammerte Variablen bzw. alternative Erklärung, sein.
Der Forscher muss sich Offenheit und Gespür für außerhalb der Theorie Liegendes erhalten. Der Forschungsprozess als ganzer ist im Gegensatz zu einer einzelnen Studie selbstverständlich an Theorien orientiert, anders ist Forschung gar nicht denkbar.

Die erste Forschungsphase der Ernährungsepidemiologie kann in zwei Teile untergliedert werden.Zuerst wird das (Untersuchungs)-Feld abgesteckt, das ist die explorative Phase. Dafür ist kein fester Plan nötig, aber hohe Sensibilität und Flexibilität, denn alle denkbaren Variablen sollten möglichst unvoreingenommen auf ihre Bedeutung für ernährungsepidemiologische Fragestellungen hin erfasst und beurteilt werden. Für diese Arbeit sind die bereits vorgestellten Check-Listen (Abb.16; 17 / 18 / 19) sehr hilfreich. In dieser Forschungsphase werden die wichtigen von den weniger wichtigen Variablen abgegrenzt. Dabei stützt man sich in erster Linie auf Sekundärdaten, d. h. es wird die zugängliche wissenschaftliche Literatur analysiert. Weiterhin werden Informationen durch spezielle Erkundigungen bzw. Befragungen von Kennern des „Feldes“ - wie Experten, Gewährsmänner usw. - eingeholt.

Strukturierte Primärerhebungen sind für diese Phase nicht passend. Die explorative Phase ist vielmehrals eine Vorstudie für die nächste Untersuchungsstufe anzusehen. In der deskriptiven Phase wirdgemäß den Erkenntnissen aus der explorativen Phase eine strukturierte Beobachtung geplant unddurchgeführt. Es werden einzelne Variablenbereiche erfasst, andere werden ausgeblendet. Aus denErgebnissen solcher deskriptiver Studien entstehen dann Hypothesen, Theorien und Modelle. AusVermutungen - wie z. B. Übergewicht stände in Beziehung zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oderungesättigte Fettsäuren im Fischöl der Ernährung der Eskimos könnten deren niedriges Herzinfarktrisikoerklären - entstehen Pläne für die nächste Forschungsphase, der Testung dieser Theorien.

Abb.30 Prinzipielle Anordnung von Variablen in ernährungsepidemiologischen Modellen.

 In der analytischen Phase der Ernährungsepidemiologie werden Hypothesen bzw. Modelle(Hypothesengefüge) als Grundlage und Ausgangspunkt benutzt. Die ausgewählten interessantenund relevanten Variablen werden in einen ganz bestimmten Zusammenhang gestellt, dessen Prinzipin Abb. 30 verdeutlicht wird. Angenommene Ursachen-Wirkungs-Beziehungen müssen in einezeitliche Abfolge gesetzt werden. Die erklärende Ursache (unabhängige Variable) steht vor derzu erklärenden Wirkung (abhängige Variable). Die für ernährungsepidemiologische Studienzugrundeliegenden Ursachen-Wirkungsmodelle setzen sich aus den Variablen zusammen, die in den geplanten Untersuchungen berücksichtigt werden, d. h. die gemessen bzw. erfasst werden sollen.
Es ist jedoch bekannt, dass es außerhalb des Modells noch weitere - störende, aus der Sicht des Modells - exogene Variablen gibt, die in diese Beziehungen eingreifen. Bei den intervenierenden Variablengibt es prinzipiell zwei Arten. Einmal sind es solche, die während der Studie kontrolliert werdenkönnen (z. B. durch Messung und spätere Berücksichtigung bei der statistischen Auswertung und/oderdurch bestimmte kontrollierte Stichprobenauswahl, wie „matched pairs“ [Gleichheit der Gruppen, alle „Störvariablen“ sind durch entsprechende Auswahl bei der Bildung von Fall- und Kontrollgruppengleichförmig vertreten]). Der andere Fall von Störvariablen betrifft jene, die nicht kontrolliert werdenkönnen, da sie z. B. nicht bekannt bzw. nicht erfassbar sind oder da sie nicht genug beachtet bzw.unterschätzt und vergessen wurden. Diese können nur bei der Stichprobenauswahl, die nach demZufallsprinzip arbeitet, vermieden bzw. gleich verteilt („randomisiert“) werden. Trotz allerÜberlegungen stellen die vernachlässigten, „intervenierenden Faktoren“ die eigentlichen Gründe dafürdar, warum manche Ergebnisse später so unerklärlich erscheinen und als unerwartete bzw. überraschende Nebenwirkungen eingestuft werden.

Bei einmaliger Betrachtung der Studienmodelle - z. B. in retrospektiven Studien - könnten dieZusammenhänge nur statisch überprüft werden. Es werden z. B. Korrelationen abgeleitet. Diebiologisch so wichtige zeitliche Komponente bleibt undeutlich, trotzdem stellten bisher die retrospektiven analytischen Studien den Hauptteil der Ernährungsepidemiologie dar. Dies entspricht dem Stand dieser Forschungsrichtung. Durch diese schnelleren, einfacheren und kostengünstigeren Studien-Designskönnen die ersten Modelle in verschiedenen Variationen wiederholt überprüft werden, wobei unterschiedliche Bedingungen, Personengruppen, Länder usw. - also verschiedene exogene Variablenkonstellationen - berücksichtigt werden. So wird die Stärke und die Konstanz der Beziehungenzwischen Variablen ermittelt. Man erfährt, ob gleiche Ursache(n) unter gleichartigen Bedingungen immerwieder gleiche Wirkungen zeigen bzw. welche anderen Bedingungen diese Beziehung(en) in welcher Weise verändern. So können Modellvarianten miteinander verglichen und die Modelltheorie verbessert werden.

Die analytische Ernährungsepidemiologie hat aber immer Grenzen, die es anzuerkennen gilt. Jeder Versuch, genauer und intensiver zu messen, stellt einen intensiveren Eingriff in das natürliche Geschehen darund führt zu Reaktionen und damit „schiefen“ Ergebnissen. Eine stark kontrollierte Auswahl der Studienteilnehmer („overmachting“) ist von der Gefahr von starken Selektionseffekten begleitet. Dieeinmalige Betrachtung hat aber den bereits genannten prinzipiellen, nicht abzuwendenden Nachteil,dass sie nur unbewegliche Bilder der Situation erzeugen kann. Korrelationen sagen nichts über diezeitlichen Beziehungen der Variablen untereinander aus, und es wird damit nicht nachgewiesen, obdiese direkt oder indirekt miteinander verknüpft sind. Die ermittelten Beziehungen müssen im Licht des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes interpretiert werden.

So wird jeder, der eine Korrelation zwischen der Abnahme der Zahl der Störche (oder auchZunahme der Zahl der Fernsehapparate) und Absinken der Geburtenrate - wie sie in Industrieländern zu beobachten ist - als Kausalbeziehung betrachtet, belächelt werden. Hier sind es gemeinsameintervenierende Variablen, die eine statistische Beziehung herstellen.
Bei weniger offensichtlichen Tatbeständen ist die Gefahr größer, dass die festgestellten Beziehungenzu direkt bewertet werden. Die Beziehungen, die zwischen Vitamin A- und Vitamin C-Aufnahmenund der Krebshäufigkeit gefunden wurden (Schottenfield, Fraumeni 1982; von Eys 1985), bedeuten nicht notwendigerweise, dass direkte Beziehungen zwischen dem Stoffwechsel dieser Vitamine und dem von Krebszellen bestehen muss. Es gibt viele mögliche Mechanismen, wie z. B. Schutz vor der Entstehungvon krebserzeugenden Verbindungen und Beziehungen zu den allgemeinen Abwehrmechanismen desKörpers. Es kann spekuliert werden, dass Nahrungsmittel, die reich an Vitaminen A bzw. C sind, gleichzeitig andere Schutzstoffe enthalten könnten, oder sie andererseits wenig an krebsauslösenden Stoffen enthalten. Ein weiteres, aktuelles Beispiel: In großen epidemiologischen Studien, wie z. B. der Framingham-Studie, zeigten sich Beziehungen in der Art, dass Menschen mit mäßigem Alkoholgenuss das geringste Risiko hinsichtlich von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigten (Castelli 1979, Kannel 1984). Eine Möglichkeit, diese Beziehung weiter zu erforschen, ist, dass in alkoholischen Getränken wie Bier und Wein nach Schutzstoffen gesucht wird. Es dürfte nicht unrealistisch sein anzunehmen, dass entsprechende Industrieverbände solchen Forschungszielen wohlwollend gegenüberstehen. Es istjedoch auch möglich, sich andere Erklärungsmodelle vorzustellen, bei denen mäßiger Alkoholkonsum als Indikator dafür steht, dass diese Menschen das Leben und seine Anforderungen gut bewältigen können. Keinen Alkohol zu konsumieren kann bedeuten, dass der Organismus damit biologisch nicht umgehen kann; die betreffenden Personen vertragen keinen Alkohol bzw. dürfen aus Krankheitsgründen keinen zu sich nehmen; es kann auch bedeuten, dass Menschen mit der potentiellen Gefahr nicht umgehen können und wollen; sie haben Angst vor Alkohol. Ängstliche Menschen tragen ein erhöhtes Krankheitsrisiko, Angst gehört zu den Dys-Stress-Faktoren.
Solche komplexen Erklärungsmodelle mit Wirkungsketten und -verknüpfungen lassen sich nur mitprospektiven Untersuchungsformen überprüfen; wie bereits betont, ist dieses aufwendig und teuer.Hierbei wird häufig auch die letzte Stufe der ernährungsepidemiologischen Forschungsstrategie erreicht - das Experiment bzw. die Intervention. Nur in dieser klassischen Untersuchungsform derNaturwissenschaft können sich Kausalbeziehungen nachweisen lassen.

Die Intervention unter Feldbedingungen besteht darin, dass unabhängige Variablen verändert werden- z. B. durch Nährstoff- und Nahrungszulagen; durch Ernährungs- und Gesundheitsberatung usw. – und deren Auswirkungen auf abhängige Variablen erfasst werden, - z. B. Ernährungs- und Gesundheitszustand, Leistungsfähigkeit, Krankheitshäufigkeit usw. Dabei wird die zeitliche Abfolge - entsprechend den Modellen - und die Beziehungsstärke (Dosis-Wirkungs-Funktionen) ermittelt.
Der Idealfall für das Erreichen des Forschungs- bzw. Erkenntniszieles besteht darin, dass die Theorie - also das Modell - und die empirisch erfassbare Realität - also die Erhebungsdaten - übereinstimmen. In solchen Fällen kann die Wirkung einer Maßnahme vorhergesagt werden (Prädikation); davon ist die Ernährungsepidemiologie noch weit entfernt. Es gilt hierbei zu überdenken, ob dies ein wünschbares Ziel darstellt. Totales Erkennen des menschlichen (Ernährungs-)Handelns und seiner Auswirkungen würde auch die Möglichkeit der totalen Steuerung und Lenkung des(Ernährungs-)Verhaltens eröffnen. Solchen Kontrollüberlegungen stehen die Ideale von derFreiheit des Menschen und der Hochachtung seiner Individualität gegenüber.

Experimentelle ernährungsepidemiologische Studien sind in der Regel prospektiv angelegt. Die geplanten Eingriffe außerhalb des Labors umfassen bisher vor allem folgende Bereiche:
- Interventions- bzw. Präventionsmaßnahmen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
- Ernährung und Infektionen,
- Ernährung und Schwangerschaftsverlauf einschließlich der Entwicklung von körperlicher und geistigerLeistungsfähigkeit der Kinder.

Dem Studiendesign nach sind die experimentellen Studien den analytischen relativ ähnlich, doch sind die Experimente logischerweise noch stärker Modell-orientiert und Methoden-kontrolliert. Es ist wichtig, die Interventionseffekte von den anderen möglichen, die Studie begleitenden Effekten zu trennen (saisonale und zeitliche Effekte, reaktive Messungen, „regression to the mean“ usw.). Es gilt zuberücksichtigen, dass die vorhergesagte Wirkung einer Intervention als solche bereits wirken kann („Placebo“-Effekt). So werden - analog zu analytischen Studien mit Fall-Kontroll bzw. Exponiert-Nichtexponiert - Interventions- und Kontrollgruppen sorgfältig in ihrer Zusammensetzung kontrolliert („gematched“). Im Verlaufe der Studie kann die Zuordnung vertauscht werden („cross-over“), damit wird jeder Studienteilnehmer zu seiner eigenen Kontrollperson. Die Teilnehmer können über die Anwendung der Intervention im unklaren gelassen werden (Blindgruppe), selbst die Untersucherkönnen über die Zuordnungen uninformiert sein („Doppelblind-Studie“).

All dies bedeutet einen hohen Aufwand, viele Bereiche des (Untersuchungs-)Feldes müssenkontrolliert werden, und den Studienteilnehmern müssen meist viele Aufgaben und Auflagenzugemutet werden. Dies hat seinen Preis, z. B. den von niedrigeren Mitmachraten und höheren Kosten (Aufwandsentschädigungen, Belohnungen).
Es gibt auch einige wenige Fälle für experimentelle ernährungsepidemiologische Studien mit retrospektivem Design. Dabei erfolgte die Intervention durch gesellschaftspolitische Maßnahmen bzw. Ereignisse.Beispiele dafür sind Reglementierungen des Staates bezüglich von Schadstoffen (z. B. Verbot von DDT, Einführung von bleifreiem Benzin), aber auch Streiks, Kriege, Unruhen und Unglücksfälle (z. B. bei den Chemieanlagen in Seveso/Italien und Bhopal/Indien; am Reaktor in Tschernobyl). Untersuchungen an ehemaligen Gefangenen des Warschauer Ghettos bzw. der Menschen in Konzentrationslagern der Nazis (Garfield 1985, Winick 1979) gehören auch in diese Kategorie.

Die regional und zeitlich gut definierten Perioden des Aushungerns von Teilen der niederländischen Bevölkerung durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ermöglichten 20 Jahre später,an Rekruten die Auswirkungen der Unterernährung während der Schwangerschaft auf diespätere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu untersuchen (Smith 1947; Stein et al. 1972, 1975).Die ständig geringeren Lebensmittelrationen für die deutsche Bevölkerung während des ZweitenWeltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit dienten der Arbeitsgruppe von H. KRAUT (Max-Planck-Institut für Ernährungsphysiologie, Dortmund) dazu, die Beziehungen zwischen Ernährung und Arbeitsfähigkeit zu untersuchen (Armenian 1986, Kraut 1961, 1962).
Auch aus der neueren Zeit unseres Industriezeitalters gibt es Beispiele von spezifischen „natürlichen“ Interventionen. In Schweden gab es vor einigen Jahren einen sechs Wochen dauernden Streik der Angestellten der staatlichen Alkoholgetränke-Verkaufsstellen, der dadurch bewirkte Minderkonsum zeigte deutlich positive Wirkungen. Umgekehrt weisen Unglücksfälle in chemischen Fabriken - wie z. B. die defekten Filter japanischer Firmen in der Minimata Bucht bzw. die der Hütte in Nordenham/Niedersachsen - auf die negativen Folgen von hohen Belastungen mit Blei, Cadmium und Quecksilber hin (Haas et al. 1974; Shigematsu et al. 1979; Sonneborn, Späth 1981).
Bei der Nutzung solcher „natürlichen“ Interventionen für ernährungsepidemiologische Forschung sollten die ethischen Gesichtspunkte nicht vergessen werden. Bei Studien mit und an Menschen stehen sich verschiedene Wertmaßstäbe gegenüber. So stehen sich wissenschaftliche und gesellschaftliche Interessen sowie die der Betroffenen gegenüber (Porter 1989).
Bei der Planung der Interventionsstudie, also eines Experimentes, muss durchdacht und abgewogen werden, welche ideellen und materiellen Risiken und Nutzen durch die Zuordnung zu den jeweiligenExperimental- und Kontrollgruppen auftreten könnten. Ist es zu verantworten, dass bei Studien an Unterernährten in Entwicklungsländern einige Personen Nahrungszulagen und somit auch Gesundheitsschutz erhalten, während die „Nachbarn“ als Kontrolle nicht von der Studie profitieren? Es gibt für ethische Fragen keine allgemein gültigen Antworten; jeder Forscher ist selbst dafür verantwortlich, sein Gewissen zu prüfen und in seinem speziellen Fall die Entscheidung nach dem Abwägen der verschiedenen Interessenlagen und Ziele zu treffen.

Experimentelle ernährungsepidemiologische Studien bedeuten einen großen Aufwand, dem stehen jedoch gute Ergebnisse gegenüber. Die Experimente im natürlichen menschlichen Lebensraum sind gut auf andere Menschengruppen übertragbar. Sie übertreffen in dieser Hinsicht die stark kontrollierten und damit weite Variablenbereiche ausblendenden Laborstudien. So werden z. B. in Stoffwechsel-Bilanzstudien mit formulierten, homogenisierten und standardisierten Nahrungsmittelmischungen die Versuchsteilnehmer tage- und wochenlang mit monotonen Breien „verköstigt“. Dies zeigt Reaktionen bei Menschen (Glatzel 1963, Obarzanek, Levitsky 1985).
Noch größer sind die Probleme der Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tierexperimenten auf normale menschliche Lebenssituationen (NN 1980, Erbersdobler 1981).

Abschließend soll nochmals betont werden, dass die Forschungsstrategie, ausgehend von beschreibend über analytisch bis hin zu experimentell, einen kontinuierlichen Erkenntnis-Weg darstellt. Dabeiist der Beginn einer solchen Forschungsphase, d. h. die Beschreibung der Sachverhalte, genauso notwendig und wichtig, wie das letzte Stück, der experimentelle Nachweis der richtigen Zusammenhänge. Allerdings wird das Erreichen des Zieles höher bewertet als der Start. Deskriptive Wissenschaftler haben meist geringeres Ansehen als erfolgreiche Experimentatoren, empirische Wissenschaft steht „unter“ der erklärenden Theorie; doch in einem Kontinuum ist jede Trennung willkürlich und hat ungerechte Züge. Ohne richtigen Anfang gibt es kein erfolgreiches Ankommen im Ziel, ohne Basis gibt es keine Spitze. Es gibt keine absolute Trennung zwischen den skizzierten Forschungsdimensionen. Auch theoriegeleitete analytische Studien in der Ernährungsepidemiologie sollten einen „explorativen Rest-Sinn“ beinhalten, um ursprünglich als nicht bedeutend erachtete und somit ausgeschlossene Variablen doch wieder ins Modell (Abb. 30) aufnehmen zu können.Nur so können falsche „Vorurteile“ bemerkt und ausgemerzt werden. In der Ernährungsepidemiologiegilt ein Methoden- und Strategie-Pluralismus: offen und fest ist hier kein Wiederspruch.